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Die Sache mit dem angeblichen "Duzen" im Englyschen

Ins Reich der Legenden gehört die regelmäßig anzutreffende Behauptung, dass man sich im Englischen ja immer duze. Wie kann es denn zu einer solchen Fehleinschätzung kommen? Vermutlich lügt man sich die englische Sprache dabei so ein bisschen zurecht, weil man aus der Perspektive des Deutschen herumphantasieren kann, dass, weil keine Unterscheidung zwischen Du / Sie gemacht wird, es sich eben um das Duzen handelt, das dort immer praktizert wird. Und dann versieht man das auch noch mit so Attributen, dass das irgendwie "lockerer" sei, irgendwie "weniger hierarchisch" und so weiter und so fort, also allerlei Lügen zweiter Ordnung beziehungsweise Corollar-Schwachsinn.

Dass man mit dieser folkloristischen Annahme

"Im Englischen duzt man sich ausschließlich."

direkt im Widerspruch zu einer anderen wohlgepflegten folkloristischen Annahme steht, nämlich

"Engländer sind höflicher als Deutsche."

fällt den meisten dann schon gar nicht mehr auf. Man steht ja sonst auch in der unglücklichen Lage erklären zu müssen, was hier ein Kennzeichen wessen ist. "Engländer sind höflicher, deshalb siezen sie sich nicht" klingt ja fast so bescheuert wie "Engländer duzen sich immer, also sind sie höflicher."

Da fragt man sich doch - echt, jetzt? Man ist höflicher, und deshalb duzt man sich? Das muss man doch nur einmal ausprobieren und das nächste Mal bei der Begegnung mit einem oder einer Ranghöheren fröhlich und superhöflich herumduzen. Da wird einem auch sehr schnell klar beziehungsweise klargemacht, wie extrem höflich das Duzen ist.

Ja, aber! Ja, aber im Englischen gibt es doch nur eine Form der Anrede. so hört man schon die Einwände. Klar, steht ja auch gar nicht zur Debatte. Damit ist aber doch überhaupt nicht ausgemacht, dass es sich hierbei ums "Du" und ums "Duzen" handelt. Für den Folkloredeutschen ist aber alles klar - und zwar klingt für ihn "you" total nach "du". Ist ja logisch, ne, ist ja beides am Ende mit "u". Steht zwar immer noch im Widerspruch zu der folkloristischen Höflichkeitsannahme, aber egal. Der Rest geht beim Bügeln raus.

Geht er eben nicht. Blickt man einmal in die Vergangenheit, dann stellt man fest, dass es ja durchaus eine längere Periode gab, in der im Englischen zwischen einer formelleren und einer informelleren Anrede unterschieden wurde. Genau so wie im Deutschen. Und was sieht man da? Wenn man zum Beispiel ins Vaterunser blickt? Das kennt Ihr noch, oder? "Vater unser, der du bist im Himmel..."? Jetzt gucken wir mal in die Bibel, und zwar in die King James Version. Und was steht da?

"After this manner therefore pray ye: Our Father which art in heaven, Hallowed be thy name."

Ja, sieh mal einer an. Eine "ye/you" und eine "thou/thee/thy" - und was bemerkt man da? "Ye" ist die Pluralform, die in Sprachen, welche die Unterscheidung machen, die höfliche Anredeform ist, "thou" ist Singular, dementsprechend das Duzen. Verloren hat die englische Sprache nur diejenige Form, die dem Singular entsprach. Verschwunden ist also die unhöfliche Duzform "thou" und übrig geblieben ist das höfliche "ye/you". Und jetzt wird auch rein lautlich klar, dass "thou" und "Du" zusammengehören und "ye" und "Sie".

Und damit ist auch der Widerspruch aufgelöst. Natürlich wird im Englischen, ganz dem folkloristischen Eindruck größerer Höflichkeit entsprechend, dauernd gesiezt. Niemals wird im Englischen geduzt. Denn die Duzform ist verschwunden. Man kann im Englischen gar nicht duzen. Nein, durch die große Höflichkeit ist man leider sogar gezwungen, so etwas wie "Ficken Sie sich!" zu sagen, wenn man "fuck you!" sagt. Irgendwie hilflos wirkt das. Aber so ist das, wenn man leichtfertig die Duzform weglässt. Für Kraftausdrücke ist das nämlich gar nicht einmal so gut.